Weltuntergang 2012: Was wirklich im geheimnisvollen Maya-Buch steht - WELT (2024)

Es ist eine der ersten Schockszenen und viele weitere werden folgen: Zufällig sieht der Schriftsteller Jackson Curtis alias John Cusack im Fernsehen, wie sich mehrere Maya auf eine schaurige Zeremonie vorbereiten, ihren kollektiven Selbstmord. Was folgt, ist Kinogeschichte. Innerhalb von drei Monaten spielte Roland Emmerichs Endzeitspektakel „2012“ fast 800 Millionen Dollar ein.

Das war im Jahr 2009. Heute, drei Jahre später und nur noch wenige Monate von dem berüchtigten Datum entfernt, von dem sich Emmerich inspirieren ließ, darf der 21. Dezember 2012 als popkulturelle Allgemeinbildung durchgehen. Dabei kann man sich die Quelle, die von ihm kündet, kaum verstiegener vorstellen: ein Buch, vor 800 Jahren im Urwald Mittelamerikas entstanden, angefüllt mit Zeichen einer unbekannten Schrift, die eine unbekannte Sprache wiedergibt und eine Kosmogonie, die bis heute nicht im einzelnen entschlüsselt werden konnte.

Es handelt sich um den Dresdner Maya-Codex, auch Codex Dresdensis genannt, eines von gerade einmal vier Büchern, die sich von der Literatur der Maya erhalten haben, deren Hochkultur zwischen 250 und 900 in Mittelamerika blühte . Seit 1739 gehört der 78-seitige Codex zu den größten Schätzen der Elbestadt. Doch erst mit dem Film von Roland Emmerich wurde das Wissen um ihn populär. Ab Freitag, bereits in Sichtweite des Datums, das ihn zum Mysterium für Apokalyptiker gemacht hat, präsentiert ihn das Buchmuseum der Zentralbibliothek der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden für einige Monate der Öffentlichkeit.

Der Titel des Unternehmens „Weltuntergang 2012? Der Dresdner Maya-Codex und seine Entzifferung“ macht denn auch unmissverständlich deutlich, dass sich auch Wissenschaftler populären Trends nicht entziehen können. „ Dieses immense Interesse ist für uns ein Phänomen “, sagt Museumsleiterin Katrin Nitzschke. Seit der Filmpremiere stiegen die Besucherzahlen kontinuierlich. „Wir respektieren das.“ Und nutzen es als Chance, einen Wissenschaftskrimi auszubreiten.

Um 1520 kam der Codex nach Europa

Zu den größten Wundern des Codex zählt, dass er überhaupt noch existiert. Nicht nur, dass er das Bombeninferno von 1945 schadlos überdauerte. Sondern auch, dass er durch Zufall dem Bildersturm der spanischen Konquistadoren entkam, die bei ihrer Eroberung der Neuen Welt alle Schriftzeugnisse der präkolumbischen Kulturen als Teufelszeug zu vernichten suchten.

Um 1520 schickte Hernán Cortés, der dabei war, das Aztekenreich zu erobern, ein Schiff mit Geschenken an den Hof seines Herrschers nach Spanien, mit denen er Karl V. den Reichtum seiner neuen Provinzen vor Augen führen wollte. Das Gold nahm der Kaiser, um Soldaten zu rekrutieren, die wenigen Bücher, die ihm ebenfalls vorgelegt worden waren, verschwanden in Archiven.

Gut 200 Jahre später stieß der Hofbibliothekar der Königlich Sächsischen Bibliothek in Dresden, Johann Christian Götze, bei einem Privatmann in Wien auf ein merkwürdiges Buch, das mit völlig unbekannten Hieroglyphen beschrieben war. Er erwarb es. Doch es dauerte noch einmal zwei Generationen, bis es das Interesse eines Forschers weckte.

Die Ausstellung in Dresden zeigt den Eintrag, mit dem sich Alexander von Humboldt 1791 in das Gästebuch der Bibliothek eintrug. 1810 publizierte er fünf Seiten des Codex in seiner „Vues des Cordillères“. Noch einmal 17 Jahre später erkannte der französische Polyhistor Constantine Rafinesque, dass die Zeichen des Dresdner Buches identisch waren mit jenen, die zahllose Stelen und Ruinen auf der Halbinsel Yucatan und im Süden Mexikos trugen.

Weitere Forschungen förderten in Büchermagazinen in Madrid und Paris zwei weitere Codices ans Licht. Ein vierter gelangte auf verschlungenen Wegen nach Mexiko-City.

Von diesem Quartett gilt das Dresdner Exemplar als das prachtvollste und – vor allem – ergiebigste. Denn an ihm konnte der Dresdner Bibliothekar Ernst Förstemann zentrale Strukturen des Zahlen- und Kalendersystems der Maya entschlüsseln. So fand er heraus, dass ihnen bereits das Prinzip der „Null“ bekannt war. Außerdem bedienten sich die Maya einer „Langen Zählung“ aller Tage von einem angenommenen Urdatum an, das in Beziehung zu göttlichen Mächten und Wirkungen gesetzt wurde.

Eine Mischung aus Bilder- und Silbenschrift

Der Einfluss dieser Entdeckungen war so groß, dass bis in die 1950er-Jahre hinein die Maya-Schrift überwiegend als ein kalendarisches Konstrukt gedeutet wurde, das festgelegte Zyklen wiedergibt. Erst als Forscher der Hypothese folgten, es könne sich um eine Mischung aus Bilder- und Silbenschrift ähnlich der altorientalischen Keilschrift handeln, fanden sie heraus, dass die Maya eine umfangreiche Literatur geschaffen hatten, die heute in weiten Teilen gelesen werden kann.

Dennoch war es gerade die Kosmogonie, die dem Dresdner Codex zugrunde liegt, die die Fantasie der Öffentlichkeit beflügelt. Der 21. Dezember 2012 markiert nämlich den Tag, an dem der 13. Kalenderzyklus der Maya seinen Abschluss findet. Die bildliche Darstellung, wie sie der Codex illustriert, zeigt ein riesiges Krokodil, dessen Maul Wasser speit. Auf das Erscheinen des Monsters beziehen sich denn auch Esoteriker und andere Interpreten, wenn sie darin den Beginn der Apokalypse annehmen.

Dabei war ein derartiges Denken, dem ja eine lineare Geschichtsauffassung zugrunde liegt, den Maya fremd. „Die Mythologie der Maya schloss eine Apokalypse gewiss nicht aus, aber bezogen auf den 21. Dezember 2012 gibt es dazu überhaupt keine Hinweise“, sagt denn auch der Bonner Altamerikanist Nikolai Grube, der zu den führenden Maya-Experten zählt: Nicht die Welt werde an dem Tag ihr Ende finden, sondern der 13. Kalenderzyklus der Maya. Darauf folgt – der 14. Kalenderzyklus.

Das Reptil des Codex erklärt Grube als Himmelskrokodil, das für eine große Flut steht. Den Hippies war das bekanntlich zu wenig spektakulär. Und Roland Emmerich auch.

Mit zahlreichen Erklärungen und Schautafeln will die Dresdner Ausstellung derartigen Spekulationen entgegenwirken. Wunder ranken sich um die 39, gut 20 Zentimeter hohen Blätter aus Rinde, die mit Holzdeckeln versehen und anschließend mit Jaguarfell überzogen wurden, noch genug. So schufen wohl in mehreren Phasen bis zu acht Schreiber – im Auftrag von Priestern – das Buch und seine Zeichnungen. Das geschah im 13. Jahrhundert, zu einer Zeit also, als die klassische Maya-Zivilisation längst Geschichte geworden war. Dennoch gehen Forscher davon aus, dass die Maya-Schreiber dieser Epoche noch mühelos die Texte lesen konnten, die ihre Kollegen 600 Jahre zuvor in den Stadtstaaten des sogenannten Klassikums schufen. Der Codex Dresdensis birgt noch viele Rätsel , vielleicht sogar unangenehme. Am 21. Dezember werden wir es wissen.

Buchmuseum in der Zentralbibliothek der Sächsischen Landesbibliothek – Staats und Universitätsbibliothek Dresden, bis 12. Mai.

Edition und Übersetzung: Nikolai Grube: „Der Dresdner Maya-Kalender: Der vollständige Codex“. (Herder, Freiburg. 208 S., 19,95 Euro. ISBN 978-3451333323. Erscheinungstermin 24. April 2012)

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