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Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?
Nahun umkreist sein taumelndes Opfer. "Schau auf die Sterne. Schau auf den Mond. Schau auf das Meer", zischt er in gebrochenem Englisch. Michael tut, wie ihm geheißen. Nahun trägt einen Schurz. Seinen Körper hat er mit Ornamenten bemalt, ein weißes X durchzieht sein Gesicht. Er ist ein Nachfahre der Maya und "Maya von Beruf", wie er sagt.
Vorhin hat Nahun vor betrunkenen Briten seinen Kriegstanz aufgeführt, morgen ist er für die Passagiere eines Kreuzfahrtschiffs gebucht, aber zunächst einmal ist der junge, torkelnde Tourist dran. "Dies ist dein Moment. Dieser Moment ist alle Momente", sagt Nahun zu Michael und zieht an dessen Joint. Er umarmt den sedierten Amerikaner und greift ihm dabei in die Hosentaschen.
Eine schwüle, sternenklare Nacht am Strand von Tulum, im tropischen Süden Mexikos. Einen Fußmarsch von hier thronen die weltbekannten Maya-Ruinen über der kitschig schönen Karibikküste. Seit jeher fasziniert die untergegangene Hochkultur, ihre Schriften, ihre Bauten, Menschen weltweit. Ihr Kalender sorgt dafür, dass sich nun Millionen mit der Idee des Weltunterganges beschäftigen, und wohl nirgendwo sonst berauschen sich Menschen derart an der Mystik der Apokalypse wie hier: in der Heimat der Maya.
In Sichtweite von Nahun und Michael stecken eine Handvoll Amerikaner die Köpfe zusammen und fassen einander an den Schultern. Sie sehen aus wie Footballspieler, aber sie miauen und bellen. Dahinter sind im Dunkeln Gestalten zu sehen, die sich Kokain durch Holzröhrchen in die Nase ziehen. Und aus dem Palmenhain dringt Stöhnen.
"Und jetzt gib mir Geld", sagt Nahun, "Cash, Cash, Cash!" Der Maya greift sich den Schein, ohne ihn anzusehen, und verschwindet lachend im Dunkel der Nacht. Mit belegter Stimme ruft Michael ihm nach: "Gracias!"
Yucatán ist spirituelles Zentrum und Partyzentrale zugleich
Südmexiko in den Tagen vor "Mayageddon", das heißt Party und Pulver, Sinnjagd und Sonnenbrand, Maya-Kitsch und Moskitos. Die Welt zelebriert den Countdown zu ihrem Untergang und Yucatán ist gleichermaßen spirituelles Zentrum und Partyzentrale. Da ist für jeden was dabei.
Amphetaminaffine Endzeit-Hedonisten ziehen von einer Großveranstaltung wie dem mehrtägigen "Time & Space"-Festival nahe Tulum zur nächsten. Die Maya-inklusiv-Touristen besuchen jugendfreie Maya-Tänze und Maya-Märkte. Die Abenteurer nehmen an einer der zahlreichen Ayahuasca-Zeremonien teil, wo Schamanen den sinnsuchenden Söhnen und Töchtern der westlichen Mittelschicht das halluzinogene Ayahuasca verabreichen. Und die Hippies versammeln sich beim jährlichen "Global Rainbow Gathering".
Das Regenbogentreffen findet heuer nicht zufällig nahe der Maya-Dschungelruinen von Palenque statt, zwölf Autostunden westlich von Tulum. Hier sei das "spirituelle Zentrum der Welt", sagt Echo, nackter Oberkörper, Vollbart, blaues Tuch im braunen Haar, und streift seine Boxershorts ab. Vorsichtig steigt er in den Fluss, der sich hier in kleinen Wasserfällen von Trasse zu Trasse durch den Regenwald schlängelt. Um ihn herum planschen und meditieren, waschen und liebkosen sich Nackte aus aller Welt. Ein Summen und ein Trommeln, ein Flöten und ein tiefes, langgezogenes Om dringen aus dem Dickicht herüber.
"Dies ist der Garten Eden", sagt Echo, und sein Gesicht strahlt. "Welcome home, brother", sagt eine junge Frau, die neben ihm schwimmt mit deutschem Akzent, und die beiden Nackten umarmen einander lange und innig.
Es sind Hunderte, die hier seit Anfang Dezember selbstorganisiert im Garten Eden leben. Sie tragen Dreadlocks und Tattoos. Sie vertreiben sich ihre Zeit mit psychoaktiven Drogen und Jonglieren. Sie erzählen einander von geheimen Orten, wo das Wasser flussaufwärts fließt, und interpretieren ihre Sternzeichen im Maya-Kalender.
Man kennt ihre Erscheinung von deutschen Bahnhöfen. Dort wirken sie mitunter deplatziert - zu bunt, zu rebellisch, zu verkatert sind sie. Hier aber leben sie ihren Traum von der universellen Liebe. Am 21. Dezember werden ihn Tausende träumen. Und sollten sie tags darauf aufwachen, werden sie weiterziehen: zum nächsten Traum, zum nächsten spirituellen Zentrum, zum nächsten "Weltaufgang", wie Echo es nennt.
Doch vorher applaudieren die Hippies in Palenque den Maya, die ihnen vom Tor zur nächsten Welt erzählen und sie zu einer Ayahuasca-Astralreise einladen.
"Für die Maya haben die Touristen gar keine Augen"
"Die Maya leben", sagt Ramon Santiz Mendez. Der Maya-Forscher vom Zentrum "Na Bolom" in San Cristobal de las Casas ist selbst Maya. Spanisch hat er erst in der Schule gelernt, seine Muttersprache ist Tzeltal, das sich ein wenig anhört, als würde er rückwärts sprechen. "Die Touristen kommen her, um die Pyramiden zu sehen", sagt er: "Für die Maya haben sie gar keine Augen."
Für Maya wie sie etwa in Tenajapa leben, dem Heimatort Santiz Mendez', der sechs Fahrstunden westlich vom Regenbogentreffen in Palenque liegt. Der Weg führt durch unberührte sattgrüne Landschaften, vorbei an Wasserfällen und Palmenhainen. Das ist die eine, die romantische Seite Südmexikos.
Die andere Seite, das sind vom Regen weggewischte Straßen. Das sind Kinder, die tagsüber Autotüren aufreißen und sich greifen, was sie tragen können. Und das sind bewaffnete Schatten, die nachts Mietautos anhalten und um umgerechnet drei Euro Wegzoll "bitten".
Das Auffälligste am öffentlichen Leben der Maya-Stadt Tenajapa ist, dass wenig daran auffällig zu sein scheint. Zumindest auf den ersten Blick. Mit seinen spanisch anmutenden Kirchen, den blinkenden Handyshops und dem herausgeputzten Hauptplatz unterscheidet sich der Ort kaum von anderen zwischen Mexico City und Cancun.
Fotos stehlen die Seele
Hinter der mexikanisch-katholischen Fassade Tenajapas findet man sie dann aber doch, die Maya. Die 20.000 Einwohner sprechen ebenso miteinander im Maya-Dialekt Tzeltal wie der Pfarrer in der Kirche, in der die katholischen Ikonen die traditionelle indigene Kleidung tragen.
Die rissigen Mauern, die zerbeulten Autos und die Holzverschläge mit Wellblechdächern in den Seitenstraßen sind Zeugnisse der sozio-ökonomischen Misere, in der sich die Mehrheit der Indigenen im Süden des Landes befindet. Für viele ist die Kommerzialisierung ihrer Bräuche und Traditionen für das Kleingeld der Touristen die einzige Perspektive.
Hier, in Tenajapa, scheinen Touristen den neugierigen Blicken zufolge noch Exotenstatus zu haben. Sobald sie aus dem Auto steigen, werden Besucher gebeten, nicht zu fotografieren. Fotos stehlen die Seele. Noch immer glauben das hier einige, vor allem die Alten, die konform der kosmischen Vision ihrer Ahnen leben und zum Beten in die heiligen Höhlen gehen. Und so steht man dann da, unter dem weiten Himmel Südmexikos, kurz vor dem Weltuntergang, und sieht einander mit neugierigen Blicken an.
Zwei Teenager auf einem Basketballplatz vor einer Kirche lassen sich sogar ablichten. Was sie glauben, dass am 21. Dezember passieren wird? Sie sehen einander verwundert an. "Nichts", sagen sie und zucken mit den Schultern.